Die Kunst, das Licht zu fangen / Stephan Trescher
Ein kurzer Führer durch den Kosmos von Dorothee Berkenheger
Kosmos? Ist das nicht ein wenig hoch gegriffen? Ja und nein. Ja, denn das Nach-den-Sternen-Greifen, was schon immer Sache der Künstler gewesen ist, ist an sich bereits vermessen – und nichtsdestoweniger unverzichtbar. Nein, denn die Werke von Dorothee Berkenheger enthalten, obwohl nie ausdrücklich ausgesprochen, beinahe immer eine himmlische Seite.
Irdischer betrachtet, lassen sich im Werk von Dorothee Berkenheger zwei Haupttendenzen ausmachen. Zum einen gehorcht es strengen Regeln, die bisweilen einer selbst auferlegten asketischen Übung nahezukommen scheinen, zum anderen enthält es einen Zug ins Lichte, von jeder Erdenschwere sich Befreienden, der jeder Einengung widerstrebt.
Die Regelhaftigkeit der „Installation am Frauentorgraben“ von 1993 fällt sofort ins Auge: Aus der Leidenschaft des Sammelns heraus, dem Delektieren am Reiz des Verschiedenen im Gleichen, schuf sich Dorothee Berkenheger einen Fundus an schier unglaublichen 140 verschiedenen Formen von Grablichtern, die sie allesamt in polnischen Geschäften fand. Von jeder dieser Lampen nahm sie einen Abguß, um ihn mit dem Kerzenwachs aus der selben Leuchte auszugießen: Form und Inhalt verschmolzen buchstäblich miteinander, aus Glasgefäßen mit Wachskerze entstanden wächserne Gefäße. Bei dieser Verkehrung von Innen und Außen entstanden einerseits vielfältige Farbveränderungen – wenn beispielsweise eine grüne Laterne eine rote Kerze enthalten hatte – , andererseits erfuhren die aus diesem Akt der Transformation hervorgehenden Gefäße eine Verwandlung von schweren, oft blickdichten Gegenständen in solche von beinahe selbstleuchtender Qualität.
Ohne die Assoziationen an Friedhof und Gräberfeld ganz ausschließen zu können, schuf Dorothee Berkenheger aus dieser Ansammlung einander ähnlicher skulpturaler Kleinformen eine raumfüllende Installation, indem sie jedes dieser Wachslichter mit einem quaderförmigen Preßspansockel versah. Nicht, um einen Wald von Grabstelen daraus zu komponieren, sondern um aus diesem möglichst neutralen und unscheinbaren Material eine Präsentationsplattform für jedes einzelne Licht zu schaffen, das nun so im Raum positioniert war, dass es, wie jede Großskulptur auch, umschritten und von allen Seiten betrachtet werden konnte. Zugleich ergab sich damit die Möglichkeit einer raumfüllenden und den Raum strukturierenden geometrischen Anordnung der Wachsgefäße.
Dieses Erheben in den Rang einer Skulptur war nicht nur ein Akt der Benutzerfreundlichkeit, sondern tatsächlich eine Art der Aufwertung, die den sakralen doch banalen Gegenstand von der niedrigen Friedhofsebene des Alltags in die höheren Sphären der Kunst hob. Aus seinem Kontext gelöst, wurde er der formalen, rein ästhetischen Betrachtung zugänglicher, nicht zuletzt indem Dorothee Berkenheger die Lichter zu Farbfamilien gruppierte, was erneut die Vielfalt in der Einheit anschaulich werden ließ.
Die oben erwähnten kosmischen Aspekte stellen sich als bildliche Assoziation geradezu zwingend ein bei dem unbetitelten Kubus aus Preßspan aus dem Jahr 1994. Dieser mannshohe Quader auf quadratischem Grundriß wirkt von außen äußerst unscheinbar, um nicht zu sagen unansehnlich, mit seiner undifferenziert gräulichen Oberfläche. Dennoch vermag er die Neugierde des Betrachters zu wecken, denn an allen vier Seitenwänden besitzt er jeweils mehrere, in unterschiedlicher Position angebrachte, kreisrunde Löcher, die dazu verlocken, ins Innere des Quaders zu blicken. Der an Duchamp geschulte Kunst-Voyeur mag bei dieser Peep-Show anderes erwarten – und doch, wagt er den Blick, angenehm überrascht sein, sich vielleicht gar zu dem Ausruf hinreißen lassen: „Ich seh den Sternenhimmel!“ Was nicht ganz richtig ist. Aber auch nicht ganz falsch. Jedenfalls, wie oben schon angedeutet, eine naheliegende Assoziation. Im dunklen Rauminneren schweben unzählige, weißlich schimmernde Kugeln unterschiedlicher Größe, manche scheinen zu leuchten, andere werden beleuchtet, manche liegen vollkommen im Dunkeln. Nicht unbedingt auf Anhieb wird man gewahr, dass all diese Kugeln und Kügelchen an Fäden hängen, die senkrecht vom Boden zur Decke gespannt sind. Das heißt, sie hängen nicht wirklich, sie fliegen, und schon gar nicht einzeln, sondern an jedem Fadenstück zu mehreren, wie unregelmäßig besetzte Perlenschnüre.
Was man nun gar nicht erkennen kann, ist die Art und Weise der Herstellung dieses Zauberkasten, der immer wieder, je nach Blickrichtung und Lichteinfall, neue Bilder hervorbringt. Die bleichen Gestirne sind in Wahrheit Paraffinkugeln, die die Künstlerin in neun verschiedenen Größen um einen Baumwollfaden herumgegossen hat, und tatsächlich sind es auch nicht viele Fäden, sondern eine einzige Kugelkette, von einer Länge, die – wie der Arbeitsaufwand und das handwerkliche Geschick der Künstlerin – gegen unendlich geht.
Mit diesem selbst erfundenen Medium gestaltete Dorothee Berkenheger nicht nur den künstlichen Seh-Raum des „Kubus aus Preßspan“, sie eroberte sich damit auch bereits existierende, fremde Räume. In der Installation in der Großweidenmühlstraße nahmen die Kugeln im reichlich vorhandenen Tageslicht ganz andere Qualitäten an und erschienen gleichförmiger, weißer auch und massiver – und wirkten plötzlich wie ein im geschlossenen Zimmer entfesseltes Schneegestöber.
Wiederum ganz anders wirkte die unendliche Wachskugelkette in der Installation im Schloß Faber-Castell 1995, wo die Künstlerin ein Holzgestänge konstruierte, das in seinem Grundriß sowohl der langgestreckten Form des Korridors entsprach, in dem es stand, als auch mit dem Bogenfenster an seinem Ende korrespondierte. In dieses Gerüst gespannt, erschienen die schwebenden, schimmernden Kugeln in sehr geordneter Form, schien das kosmische Chaos gebändigt. Zum ersten Mal konnte der Betrachter das Werk umschreiten, und im Umschreiten das sich verändernde Licht auf und in den transparenten Kugeln beobachten. Die profanen Gedanken an ein Treppengeländer aus den 50er Jahren verflüchtigen sich schnell und machen Erinnerungen Platz an poetischere Dinge, wie glitzernde Tautropfen in einem sonnenbeschienenen Spinnennetz oder eine gigantische Harfe im Regen.
Nur mit dem Werkstoff Paraffin und weitaus puristischer als noch bei den Grablichtern arbeitete Dorothee Berkenheger bei ihrer Installation „Unterwegs in Paris“. Diese expansive, den ganzen Atelierraum mit seinen anderthalb Geschossen und mehr als vier Metern Deckenhöhe bis zum Rand füllende Installation kommt ganz ohne Farbe aus – und ganz ohne Fäden. Nichtsdestoweniger ist sie von beeindruckender Komplexität. Aus der Nähe betrachtet scheinen die weißen Wände mit einer Vielzahl arbiträr angeordneter Glühbirnen bestückt zu sein. Bei noch eingehenderer Betrachtung bemerkt man jedoch, dass es sich um milchig weiße Knopfformen aus durchscheinendem Paraffin handelt, welche die Künstlerin durch das Abformen und Nachgießen unzähliger Möbelknöpfe und -griffe selbst gefertigt und mit angewärmter Knetmasse an der Wand befestigt hat.
Mit mehr Abstand stellt man dagegen fest, dass die Paraffinknöpfe keineswegs nach dem Zufallsprinzip installiert sind, sondern einer formalen Ordnung folgen, die man schließlich als die Zeichen der Braille-Schrift identifizieren kann. Hier tut sich ein Paradox auf, das man fast perfide nennen möchte, denn kaum ein Sehender wird den solcherart manifest gemachten Text entziffern können – zumal die durchsichtigen Knöpfe an vielen Stellen mit der Wand optisch geradezu verschmelzen – und ein Blinder hat höchstens die Möglichkeit, die in Griffnähe befindlichen Fragmente des Textes zu entschlüsseln. Beide, die Sehenden wie die Fühlenden, können jedoch beruhigt sein: der verwendete Text entstammt einem Reiseführer über Paris und enthält nichts außer den üblichen Platitüden, die man unter der Überschrift „Unterwegs in Paris“ ohnehin vermuten würde.
Im Gegensatz zum Reiseführertext nimmt die ortsfremde, als Gast in Frankreich weilende Künstlerin seltsame, aber bemerkenswerte nationale Besonderheiten wahr: die Vorliebe für einzeln zu kaufende Möbelknöpfe, hauptsächlich zur Verschönerung von Badezimmern, und das im Vergleich zu ihrer deutschen Heimat häufige Auftreten von Hinweisschildern in Blindenschrift, sogar im Inneren von Kunstmuseen.
Diese von ihr konstatierten Eigenheiten nutzt sie nun, um sie in ihrer eigenen Arbeit zu instrumentalisieren; der allgemeine Ortsbezug, den ein unlesbar gemachter Text behauptet, wird aufgegeben zugunsten eines konkreten und direkten Bezuges auf den zur Verfügung stehenden Raum.
Das durch unterschiedliche Zeilenhöhen belebte Erscheinungsbild der Schrift an der Wand beweist: Der Künstlerin geht es mehr um die ordnende Struktur, die sie verwendet, um ein nach ästhetischen Kriterien gestaltetes Raumganzes zu schaffen, als um die Dechiffrierung eines Textes. Dennoch bleibt der Reiz der Widerständigkeit. Wir wissen, dass es sich bei diesem Ornament an der Grenze des Sichtbaren um eine schriftliche Mitteilung handelt, wir können sie nur partout nicht entziffern. Immer wieder werden wir versucht zu lesen, und jedesmal von neuem auf uns selbst zurückgeworfen, mit der stillschweigenden Aufforderung: Lies nicht, sieh!
An den „Gespinsten“, den Installationsarbeiten mit Baumwollfäden, läßt sich in mehrfacher Hinsicht ein Prozeß der Reduktion beobachten. Zunächst ist da die Vereinfachung der Mittel zu nennen. Dorothee Berkenheger verwendet nur noch Fäden, und damit zum ersten Mal ausschließlich Material, das sie nicht selbst hergestellt hat, sondern industriell vorgefertigt ist. Damit verlagert sich der Schwerpunkt der Arbeit noch weiter weg vom Materiellen zum Installativen. Die so entstehenden Werke werden noch lichter, noch leichter und, so paradox es klingt, noch verschlossener, weniger mitteilsam, hermetischer.
An drei verschiedenen Orten hat die Künstlerin bisher ihre temporären Fadenarbeiten installiert, drei Räume“bespielt“ und dabei so verwandelt, dass man schon davon sprechen muß, sie habe neue Räume geschaffen. Räume allerdings, die nicht betreten werden können, sondern betrachtet werden wollen. Dorothee Berkenheger verweigert sich der strengen, puristischen Konzeptualität ebenso wie der Ästhetik des Abenteuerspielplatzes, ihre Arbeiten zielen zwar geradewegs auf die sinnliche, visuelle Wahrnehmung, aber sie wollen weder vereinnahmen noch vereinnahmt werden, ein bestimmtes Maß an Distanz und Zurückhaltung fordern sie vom Betrachter ein.
Besonders deutlich wurde das bei der Installation „Gespinst im Keller“, wo den erstaunten Galeriebesuchern zunächst einmal gar nichts fürs Auge geboten zu werden schien und schließlich „bloß“ eine filigrane Verbarrikadierung des Kellergeschosses samt Treppe. Nur vom oben umlaufenden Treppengeländer aus konnte man die ein Stockwerk tiefer gespannte, allmählich sich nach unten entfernende Arbeit betrachten. An ihr läßt sich vielleicht am sinnfälligsten die Vorgehensweise Dorothee Berkenhegers bei ihren Fadenarbeiten erläutern.
Zum einen wird in dieser Arbeit die Idee vom Ortsbezug so ernst genommen wie selten; ganz buchstäblich sind die Fäden entlang vorhandener Grenzlinien gespannt; es sind Achsen, die durch Fensterrahmen, Säulen, Deckenplatten, Stromschienen und Beleuchtungskörper im Raum bereits existieren, oder als Teilstrecken von Fluchtlinien zumindest angelegt sind. Auch wenn sie im Alltag nicht wahrgenommen werden. Diese den Raum konstituierenden Parameter macht die Künstlerin sichtbar, indem sie das Fugenraster der Decke in zwei Lattengerüste aus Holz umsetzt, die sich spiegelbildlich am Boden und an der Decke befinden und zwischen ihnen ihren unendlichen Faden spinnt. Verschiedene Raumebenen werden so aufeinander projiziert, aber was in Erscheinung tritt, sind die Projektionsstrahlen selbst; sie bilden das Netz, das Scheingewebe, aus denen jetzt Wände entstehen, die sich hintereinander staffeln, schichten und verdichten, einander schneiden und durchkreuzen. Assoziationen an die lichten Papierwände der japanischen Architektur stellen sich schnell ein, aber im Gegensatz zu den fernöstlichen Schiebetüren und wandelbaren Wänden stehen die fadenscheinigen Gespinste von Dorothee Berkenheger fest verankert auf der Erde, unverrückbar. Straff gespannt sind sie, wie die Saiten einer großen Harfe. Spielen muß sie der Betrachter, indem er sich und seine Augen bewegt. Bewegt er sich langsam, ertönt ein ruhig perlendes, visuelles Arpeggio, bewegt er sich dagegen rasch, entsteht ein Flimmern und Flirren, dass man an den statischen Charakter der Installation kaum noch zu glauben vermag.
Bleibt noch der arbeitsaufwendige handwerkliche Aspekt: Das Gewebe hier ist gar keines; denn während ein gewebter Stoff immer aus Kette und Schuß besteht, aus rechtwinklig zueinander verlaufenden Fäden, ist das Werk vor unseren Augen aus Fäden gewirkt, die allesamt parallel verlaufen, einer so senkrecht wie der andere – und doch so dicht, dass der Eindruck entstehen kann, wir hätten es hier mit einem wirklichen Gewebe zu tun. Dabei handelt es sich um ein streng lineares Gebilde, das wie Schnürlregen von oben nach unten fällt, oder wie Strahlen einer Fontäne ewig nach oben steigt, immer nur nach oben, ohne jemals herabzufallen, das wie ein Wald von hauchdünnen Säulen steht, die zwischen Himmel und Erde, Boden und Decke vermitteln.
Man sieht die Welt vor lauter Fäden nicht – könnte man angesichts dieser dichten Labyrinthe argwöhnen. Aber das Gegenteil ist richtig. In „Wolken ziehen vorüber“ beispielsweise hat Dorothee Berkenheger ihre Arbeit zurückhaltend in einer Raumecke mit Fensterfront plaziert.
In dieser Übergangszone zwischen Innen und Außen macht die Kunst sich nicht breit, eher verflüchtigt sie sich nach draußen, ins Freie.
Hier in dieser neuesten Fadenarbeit resultiert die Transparenz aus den Besonderheiten von Material und Linearität: Durch die dichten Fadengitter entsteht, je nach dem Standpunkt des Betrachters, ein Wechsel spiel von Durchscheinendem und Undurchdringlichem, zwei hauchzarte Schleier können im Auge des Betrachters plötzlich zu einer opaken Wand verschmelzen.
Weil Dorothee Berkenheger auf jede gesonderte künstliche Beleuchtung verzichtet, lebt „Wolken ziehen vorüber“ ganz von der Wirkung des veränderlichen, wandelbaren Tageslichtes. Dieses Hell- und Dunkelwerden, das Entstehen von Räumlichkeit aus dem Nichts, auch das unvermittelte, manchmal unvermutete Aufscheinen der Welt draußen ist sozusagen ein Schauspiel „nach der Natur“. So dass die Künstlerin mit der Strenge und Kargheit ihrer Mittel eines erreicht: pure Poesie.
Stephan Trescher