Drei Farben Weiß / Stephan Trescher
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zu sehen ist nichts - so oder ähnlich mögen Sie gedacht haben, als sie diesen Raum betraten. Oder auch, als Sie die Einladungskarte betrachtet haben: Das Bild eines Raumes, verschleiert, wie hinter Gittern, der kaum noch als der Ort zu erkennen ist, an dem wir uns jetzt befinden. Tatsächlich entziehen sich die meisten Arbeiten Dorothee Berkenhegers weitgehend den Möglichkeiten der photographischen Reproduktion, es sind Werke, die der Betrachter noch unmittelbar erleben muß. Das wiegt heute, in Zeiten, da die Marktgängigkeit ein wesentliches Kriterium der Kunst ist - und die Möglichkeit, glänzende Bilder von ihr zu verbreiten gehört nun einmal dazu - schwer, ja, nach den Gesetzen des Marktes muß es beinahe als Handicap gelten, sich dieser Vervielfältigungsmaschinerie zu entziehen. Umso erfreulicher ist es, daß das Ehepaar Defet es der Künstlerin ermöglicht hat, diese Arbeit zu realisieren, und uns damit die Gelegenheit gibt, sie heute ein erstes Mal in Augenschein zu nehmen.
Vielleicht haben Sie schon beim Näherkommen bemerkt, daß es sich mit dem vermeintlichen Nichts so einfach nicht verhält, daß dieses Gebilde im Raum ein äußerst vielschichtiges Etwas ist. So daß man sich ihm möglichst von verschiedenen Seiten nähert, und, da es ein so zartes Gespinst ist, behutsam. Aber selbst eine vorsichtige Annäherung ist für den Eröffnungsredner schwierig, denn wir haben es hier mit einer Kunst zu tun, die sich nicht nur der Reproduktion, sondern auch der Versprachlichung hartnäckig widersetzt. Weshalb meine Rede eher kurz ausfallen wird.
Mein erster Annäherungsversuch: Dorothee Berkenheger hat hier ein Werk geschaffen, das beinahe ausschließlich aus weißen Baumwollfäden besteht, die, dicht an dicht, von der Decke bis zum Boden gespannt sind und ein Gewebe zu bilden scheinen, das die Künstlerin in unendlich mühevoller Handarbeit selbst aufgespannt hat. Als ich mich dieser stupenden Fingerfertigkeit zum ersten Mal konfrontiert sah, mußte ich an jene antike Überlieferung denken, die von Arachne erzählt, die so gut weben konnte, daß sie die Göttin Athene zum Wettkampf forderte. Diese Herausforderung war umso vermessener, als Arachne eine Frau aus dem sogenannten einfachenVolk war, also weder adelig noch reich, oder, wie Ovid es in seinen Metamorphosen formuliert, „Kunst nur brachte ihr Ruhm“. Daß die irdische Frau aus dem Wettweben als Siegerin hervorging, brachte ihr allerdings keinen großen Nutzen, denn zur Strafe für ihre Überheblichkeit wurde sie von ihrer himmlischen Konkurrentin in eine Spinne verwandelt. Aber nicht nur deshalb hinkt mein Vergleich auf allen acht Beinen. Die beiden griechischen Damen stellten nämlich um die Wette so richtig schöne Bildteppiche her, mit einer Aneinanderreihung anekdotischer bunter Bildchen - mit Heldentaten der Götter die eine, mit ihren amourösen Fehltritten die andere - und einem ornamentalen Rankenwerk am Rand, was mit der Kunst von Dorothee Berkenheger nun wahrlich nicht viel zu tun hat: Die bleibt abstrakt - und weiß. Naturweiß, um genau zu sein. Fast beige.
Beinahe genauso wesentlich ist ein weiterer, nicht ganz so offensichtlicher Unterschied: Das Gewebe hier ist gar keines; denn während ein gewebter Stoff immer aus Kette und Schuß besteht, aus rechtwinklig zueinander verlaufenden Fäden, ist das Werk vor unseren Augen aus Fäden gewirkt, die allesamt parallel verlaufen, einer so senkrecht wie der andere - und doch so dicht, daß der Eindruck entstehen kann, wir hätten es hier mit einem wirklichen Gewebe zu tun. Dabei handelt es sich um ein streng lineares Gebilde, das wie Schnürlregen von oben nach unten fällt, oder wie Strahlen einer Fontäne ewig nach oben steigt, immer nur nach oben, ohne jemals herabzufallen, das wie ein Wald von hauchdünnen Säulen steht, die zwischen Himmel und Erde, Boden und Decke vermitteln.
Damit sind wir beim Raum angekommen. Nicht in der Fabrikhalle, in der wir stehen, sondern in dieser speziellen Raumecke mit Fensterfront, in der die Künstlerin monatelang ihr Werk erstellt hat, gänzlich „unrationell“ in langwieriger Handarbeit. Diese Ruhe ist der Geschäftigkeit der umgebenden Produktionsstätte sicher entgegengesetzt, dennoch hat sich Dorothee Berkenheger dafür entschieden, der Funktionalität des Raumes nicht mit einer auftrumpfenden Geste etwas entgegenzusetzen; im Gegenteil hat sie sich besonders zurückgenommen, ihre Arbeit beinahe beiläufig in einer Übergangszone zwischen Innen und Außen plaziert; die Kunst macht sich nicht breit, verflüchtigt sich eher nach draußen, ins Freie. Die Struktur des Gesamtgebildes ist offen, es öffnet sich nach außen hin in mehreren Kompartimenten, franst sozusagen an den Rändern aus und begreift auch so den weiteren Umraum mit ein. Trotzdem ist dieses Scheinlabyrinth nicht begehbar, es will von außen betrachtet sein, visuell erfaßt und nicht erwandert werden.
Trotz seiner filigranen Beschaffenheit ist dieses Kunststück von Dorothee Berkenheger in der Lage, den vorhandenen Raum in geometrischer Strenge zu gliedern und zugleich neue Räume zu schaffen. Zum einen wird in dieser Arbeit die Idee vom Ortsbezug so ernst genommen wie selten; ganz buchstäblich sind die Fäden entlang vorhandener Grenzlinien gespannt; es sind Achsen, die durch Fensterrahmen, Säulen, Deckenplatten, Stromschienen und Beleuchtungskörper im Raum bereits existieren, oder als Teilstrecken von Fluchtlinien zumindest angelegt sind. Auch wenn sie im Alltag nicht wahrgenommen werden. Diese den Raum konstituierenden Parameter macht die Künstlerin sichtbar, indem sie (wie hier) das Fugenraster der Decke in zwei Lattengerüste aus Holz umsetzt, die sich spiegelbildlich am Boden und an der Decke befinden und zwischen ihnen ihren unendlichen Faden spinnt. Verschiedene Raumebenen werden so aufeinander projiziert, aber was in Erscheinung tritt, sind die Projektionsstrahlen selbst; sie bilden das Netz, das Scheingewebe, aus denen jetzt Wände entstehen, die sich hintereinander staffeln, schichten und verdichten, einander schneiden und durchkreuzen. Assoziationen an die lichten Papierwände der japanischen Architektur stellen sich schnell ein, aber im Gegensatz zu den fernöstlichen Schiebetüren und wandelbaren Wänden stehen die fadenscheinigen Gespinste von Dorothee Berkenheger fest verankert auf der Erde, unverrückbar. Straff gespannt sind sie, wie die Saiten einer großen Harfe. Spielen muß sie der Betrachter, indem er sich und seine Augen bewegt.
Mein dritter Annäherungsversuch gilt weder der Materialität oder der linearen Form, noch der strengen Struktur, er gilt der Frage nach der Transparenz. Man sieht die Welt vor lauter Fäden nicht - könnte man meinen, wenn man durch diese Installation und die vielen Fenster hier nach draußen, ins Freie schaut. Aber man täusche sich nicht. Man sieht sie sehr wohl. Manchmal sogar doppelt, nämlich zusätzlich noch im weiß glänzenden Fußboden gespiegelt, und in jeweils ganz wechselndem Maße klar oder verschleiert. Es kann auch sein, daß man sich auf das so schwer greifbare Werk konzentrieren möchte, dann begreift man die äußere Welt vielleicht als störend oder doch unwesentlich, kehrt den Fenstern (so gut es geht) den Rücken und richtet den Blick nach innen, um den feinen Nuancen von Transparenz auf die Spur zu kommen.
Wer die Kunst Dorothee Berkenhegers kennt, weiß, daß sie in ihren Werken den unterschiedlichen Ausprägungen der unstofflichen Phänomene von Licht und Durchsichtigkeit nachspürt: Sie hat Abformungen von Gläsern aus dichtem Ton gefertigt, mit schimmernden Wachskugeln und -Täfelchen gearbeitet, mit Dia- und Lichtprojektionen experimentiert. Hier in dieser neuesten Fadenarbeit resultiert die Transparenz aus den Besonderheiten von Material und Linearität: Durch die dichten Fadengitter entsteht, je nach dem Standpunkt des Betrachters, ein Wechselspiel von Durchscheinendem und Undurchdringlichem, zwei hauchzarte Schleier können im Auge des Betrachters plötzlich zu einer opaken Wand verschmelzen.
Diese enormen Veränderungen, die durch minimale Bewegungen entstehen, ähneln tatsächlich jenen Lichtspielen, die windbewegte Wolken an einem sonnigen Tag hervorrufen. Obwohl der Name der Arbeit „Wolken ziehen vorüber“ nicht daher rührt, sondern einem Film von Aki Kaurismäki entlehnt ist. Für dessen Offenheit und lakonischen Charakter hat die Künstlerin viel übrig. Und so kam ihr beim Arbeiten dieser Titel in den Sinn. Nicht um inhaltliche Verknüpfungen herzustellen, sondern weil er so schön lapidar war. Und außerdem, weil er der statischen Ruhe der Installation so sehr entgegenstand. Und natürlich doch auch, weil Dorothee Berkenheger ganz auf die Wirkung des veränderlichen, wandelbaren Tageslichtes setzt.
Sie hat auf jede gesonderte künstliche Beleuchtung verzichtet und auch die unmittelbar in ihrer Installation „eingesponnenen“ Neonröhren sollen am liebsten gar nicht und wenn, dann nur zusammen mit der übrigen Deckenbeleuchtung eingeschaltet werden. Knipsen wir also statt dessen lieber unsere Phantasie an und stellen uns die Arbeit bei wechselndem Tageslicht vor. Dieses Hell- und Dunkelwerden, das Entstehen von Räumlichkeit aus dem Nichts, auch das unvermittelte, manchmal unvermutete Aufscheinen der Welt draußen ist sozusagen ein Schauspiel „nach der Natur“. So daß trotz der Strenge und Kargheit der Mittel die Wirkung pure Poesie ist.
Dieses flüchtige Spiel von Licht und Schatten läßt sich auch farblich fassen. Die Fadenwände sind dann nicht einfach mehr weiß, das Weiß fächert sich auf in ganz viele Farben und Nuancen, denn wie in einem Schmetterlingsnetz fangen diese zarten Schnüre das gaukelnde Licht und lassen uns seine Schönheit betrachten. So schließe ich da, wo ich begonnen habe: Zu sehen ist nichts - außer den Farben des Lichts. Und das, meine Damen und Herren, ist eine ganze Menge.
Stephan Trescher
Rede zur Eröffnung der Rauminstallation „Wolken ziehen vorüber“ von Dorothee Berkenheger in der Fabrikhalle Tillystraße 41 der Künstlerpinselfabrik da Vinci Defet GmbH in Nürnberg, gehalten am 9.10.1999