Routing / Hans-Peter Miksch
Routing (zumikon Lounge, Nürnberg, 5.3.2009)
Für Dorothee Berkenheger, die 1967 in Stuttgart geborene und seit dem Jahr 2000 in Berlin lebende Künstlerin, ist diese Ausstellung mit dem Titel „Routing“ eine Rückkehr an einen wichtigen Ort ihrer künstlerischen Laufbahn. Denn von 1988 bis 1996 hat sie in Nürnberg studiert, zuletzt als Studentin bei Rolf-Gunter Dienst. Sie hat Preise erhalten, und auch in den Jahren nach dem Ende des Studiums hier noch Ausstellungen bestritten.
Der von ihr selbst gewählte Titel muss als Interpretationshinweis gelesen werden:
Routing meint das Festlegen eines Leitweges, einer Reiseroute, eine dynamische Form des Transports gerade da, wo es verschiedene, sich kreuzende und miteinander vernetzte, aber auch konkurrierende Wege gibt. Der Begriff ist aus der Computerfachsprache eingewandert und wird durch den Gebrauch von Navigationsgeräten im Auto populär. Man kann ihn sich auf ganz und gar herkömmliche Art und Weise versinnbildlichen, wenn man den Anblick eines zentralen Rangierbahnhofs oder Durchgangsbahnhofs aus der Vogelperspektive kennt. Die ankommenden Gleise, vielleicht ein Dutzend, verzweigen und vervielfachen sich zu mehreren Dutzend Gleisen. Ein Zug, der nun möglichst schnell diese Verzweigungen und Haupt- und Nebenstrecken passieren möchte, muss sich folglich einen Weg suchen über diverse Kreuzungspunkte hinweg. Die Aufgabe lautet, einen effizienten Weg durch das Geflecht zu finden, denn hier führt eine Verzweigung zu einem toten Gleis, dort wäre nur mit reduzierter Geschwindigkeit ein Bahnsteig zu passieren, an dritter Stelle ist der Weg von einem stehenden Zug blockiert usw. usf. (Um den Titel zu erläutern, hätte ich das Bild von dem Gleiskörper wohl auch gewählt, wenn wir keine Strecke sehen würden, die zwingend an eine Spielzeugeisenbahn erinnert.)
Doch zunächst ein Blick auf ältere Arbeiten von D.B:
Viele besonders bemerkenswerte Arbeiten der letzten Jahre präsentierten keine Einzelobjekte, sondern Rauminstallationen. An einige ihrer Installationen hier in Nürnberg kann ich mich erinnern, so zum Beispiel eine in einem Zimmer eines zum Abbruch vorgesehenen Hauses, das ziemlich genau an der Stelle stand, wo sich heute das Zumikon befindet. Der Raum wurde zum Rahmen für einen Eingriff, der ebendiesen Raum in seiner Totalität besetzte: Mit einer einzigen, schier endlosen Kette aus handgearbeiteten Paraffinperlen war ein Zimmer dieses leerstehenden Hauses gefüllt. Das Schwebende und sozusagen Transluzide, das Irritierende dieser Installation ließ sich in verschiedener Hinsicht deuten. Aber wie auch immer ‑ – - es war höchst poetisch.
Eine andere Arbeit mit dem Titel „Ortung“ war ebenfalls hier in Nürnberg vor gut acht Jahren zu sehen (bei der damaligen Galerie Birner), nämlich eine Sperrholz-Variante der Betonformsteine, wie sie in der DDR, nicht zuletzt im früheren Ostberlin und dort insbesondere in der Stalinallee, in unterschiedlichen Ausprägungen als Baukunst-Elemente verwendet wurden. Diese Betonformsteine waren eine DDR-Variante konkreter Kunst (im Westen war dem die markante Fassade der Kaufhauskette Horten vergleichbar). Da Konkrete Kunst ab Mitte der 1950er Jahre als westlich-formalistisch abgelehnt worden war, fanden die Künstler im Osten den klugen Ausweg, solche systematischen, ornamentalen Reihungen aus geometrischen Formen als schmückendes Beiwerk der Architektur – als Kunst am Bau – unterzubringen. Bekanntes Beispiel ist die Gebäudeecke aus perforierten Betonformsteinen des Café Moskau, die sich vollständig vom Boden löst, zwar den Grundriss des Hauses charakterisiert, aber das Gebäude an einer Stelle transparent werden lässt.
D.B. hat die konkrete Formensprache, die die Ost-Künstler in den 1950er und 1960er Jahren aus der verpönten Zweidimensionalität in die gesellschaftlich akzeptierte Dreidimensionalität überführten, aufgegriffen, miniaturisiert und in Sperrholz gesägt und gestanzt. Sie hat aus den flächig wirkenden Fassadenelementen dreidimensionale Körper gemacht, ornamentale Hausmodule oder Container, die rechtwinklig auf- und übereinandergetürmt wie abgestellte Architekturmodelle wirkten.
Es fällt auf, dass D.B. eine Tendenz zum Seriellen und Modularen hat. Ihre Arbeiten bestehen meist nicht aus einem einzelnen, sondern aus einer Vielzahl gleicher oder höchst ähnlicher Artefakte, mit denen sie wenigstens eine Wand oder einen ganzen Raum bespielt. Man gewinnt den Eindruck, es handele sich um Raumzeichnungen einer erklärten (!) Nicht-Zeichnerin. Die Dinge, die sie quasi in Serie herstellt, produziert sie in der Art einer Manufaktur. Also persönlich, händisch, aber durchaus mit Hilfe von Maschinen. Die Gleichartigkeit wird nicht bis zur Doublette getrieben, im Gegenteil, kleine Unterschiede und Abweichungen sind von der Künstlerin gewünscht.
Eine weitere Beobachtung: Das Geflecht, das Myzel, die Bahn, der Weg, der Mäander, die Strecke, die Kette, der Fries – - – all das findet sich in Arbeiten von D.B. und ist ebenso Form wie Inhalt.
Struktur ist kein nur äußeres Wesenselement ihrer Arbeiten. Die Struktur kann regelmäßig und symmetrisch sein wie bei der zuletzt erwähnten Arbeit mit dem Titel „Ortung“. Sie kann chaotisch erscheinen und asymmetrisch wie bei dem Zimmer voller aufgefädelter Paraffinperlen oder dem „Mäander“ aus Paraffinplättchen, die einst den Boden eines Raumes vollständig bedeckten.
Das Modul und die Struktur bedingen sich, werden ab und an sogar zu Synonymen.
Eine Biografie ist, wenn man so will, auch eine Form des Routing – - – aber im Rückblick, post festum. Eine Biografie als Routing zu bezeichnen ist natürlich widersprüchlich. Denn eine Biografie ist schwerlich ein vollkommen zielgerichteter und auf Effizienz hin gedachter Entwicklungsprozess. Eine Biografie kann allerdings rückblickend, also immer dann, wenn sie geschrieben wird, als Routing interpretiert oder dargestellt werden. Wenn es sich um einen erfolgreichen Künstler, eine arrivierte Künstlerin handelt, stellt sich in der Biografie dem Adressaten schlichtweg alles als zielführend und konsequent dar! Dies ist ein uraltes Schema – man sollte deutlicher sagen: Marketingschema, also ein Schema, das der Distinktion dient -, das seit Giorgio Vasaris erster Kunstgeschichte, seinen Erzählungen und Künstlerlegenden, den Vite, bekannt ist.
Wendet man den Begriff des Routing auf eine Biografie an, drängt sich andererseits der Gedanke auf, dass Umwege zielführend sein können, dass Effizienz nicht die Wahl des kürzesten Weges bedeuten muss. Der Gedanke ist spätestens seit Paul Klees Bildtitel von 1929, „Hauptweg und Nebenwege“, in der Kunstwelt: Eine Anspielung auf die Überzeugung Klees, dass derjenige glücklich sei, der sich dem „structural Gesetzmässigen“ einzufügen vermag, ohne seine Individualität zu verlieren. Es geht um ein harmonisches Verhältnis zwischen Logik und A-Logik.
Abschließend möchte ich meine Gedanken so zusammenfassen:
Die Bodenarbeit Routing zeigt uns Teile, die wie das Gleisnetz einer Spielzeugeisenbahn für Vorschulkinder aussehen. Sie sind offensichtlich nicht gekauft, sondern manufakturiert, so wie ich es beschrieben habe: D.B. legt Wert auf die Aussage, dass sie die Teile selbst hergestellt hat.
Eine Struktur ist einerseits durch die Bauteile und ihre Verbindungslogik vorgegeben, andererseits wuchert hier etwas nach einem für uns nicht entschlüsselbaren Bauplan. Die Teile sind da, wo sie gleiche Funktion haben, höchst ähnlich. Aber die minimalen Abweichungen ebenso wie das Mäandernde der Gestalt als Gesamtheit der Teile sind ein entscheidendes Moment. Der Struktur wird also die Intuition gegenüber gestellt.
Die Miniaturisierung im Modellbau und das latent Dysfunktionale der Bahn als Bahn heben das spielerische Element hervor, das Probehandeln, oder besser gesagt: das Probedenken mittels künstlerischer Praxis.
(Nur für das geschriebene Manuskript:
Oder mit anderen Worten: Entstanden als Re-Manufakturierung eines industriell gefertigten Konsumangebots transponiert D.B. Spielzeug zur Konzeptkunst, macht aus der Welt als Modell eine Parabel auf die eigene Künstlerexistenz.)